Laurence Le Guen: “Cent cinquante ans de photolittérature pour les enfants” (Bookbird – Rezension)

Mit Cent cinquante ans de photolittérature pour les enfants präsentiert Laurence Le Guen eine Auswahl von Kinder- und Jugendliteratur, bei der Fotografie eine tragende Rolle spielt. Nach einer Promotion über Fotobücher für Kinder forscht die Autorin heute am Centre d’études des langues et littératures anciennes et modernes in Rennes zu diesem Thema und kuratiert Ausstellungen. 

Für das vorliegende Werk hat Laurence Le Guen gut ikonische 80 Werke aus dem Zeitraum von 1866 bis 2020 zusammengestellt. Diese sind sämtlich in europäischen (inklusive russischen) und nordamerikanischen Verlagshäusern erschienen. In chronologischer Folge wird jedes Buch auf einer oder bisweilen zwei Doppelseiten vorgestellt – links ein Informationstext sowie eine Vignette des Umschlags, rechts eine oder mehrere Seiten aus dem Werk. Die Qualität der Reproduktionen ist hervorragend, die luftig gesetzten Texte laden zum Lesen ein. 

In seiner knappen Einleitung thematisiert der franko-belgische Historiker und Literaturwissenschaftler Michel Defourny den schweren Stand der Fotografie in der Kinder- und Jugendliteratur: „Lange Zeit war das Foto im Kinderbuch unbeliebt. Allerlei Ärzte, Bibliothekare, Buchhändler, Pädagogen und Eltern waren der Meinung, dass es für Kinder ungeeignet sei. Als Ergebnis eines chemisch-mechanischen Prozesses (…) war es wie von einem Makel gezeichnet. Jahrelang war man der Ansicht, dass die Fotografie die Wirklichkeit verarmt (…). Andererseits wurde sie als zu realistisch wahrgenommen und galt als wenig fantasiefördernd, symbolisch nicht aufgeladen und künstlerisch nicht kreativ. Außerdem war sie für jüngere Kinder nicht gut lesbar, ihr sollten Zeichnungen, klare Konturen und Farben vorgezogen werden.“ In Frankreich, so Defourny, erfolgte die Anerkennung der Fotografie im Buchkontext in den 1980er und 1990er Jahren. Dort prägte der Literatur- und Kunstprofessor Jean-Pierre Montier 1988 den im Titel verwendeten Begriff photolittérature, für den es im Deutschen und Englischen keine direkte Entsprechung gibt.

Die breite Auswahl an Werken ist der Schwerpunkt des Buchs und zugleich seine größte Stärke. Das Panorama unterstreicht die Vielseitigkeit des Genres photolittérature im Kinderbuch. So wählt die Autorin als erstes und letztes Buch Werke mit Texten des Märchenautors Hans Christian Andersen. Damit zeigt sie nicht nur eine Kontinuität, sondern auch, wie sehr sich die Art mit Fotos zu erzählen weiterentwickelt hat. Schon im späten 19. und zu Beginn des 20 Jahrhunderts stehen neben der Illustration von teilweise fiktiven Reiseberichten („Claudius Bombarnac“, Jules Verne/Léon Benett, 1892, 10) und allerlei didaktischen Werken („Dansez, chantez…“, Alice Chavannes, 1908, 20) erste Fotobücher mit Tieren oder Figuren als Protagonisten (der Hund „Sac-à-Tout“, Séverine, 1903, 16; das antimilitaristische „War in Dollyland“, Harry Golding, 1915, 28). Stellvertretend für die propagandistische Nutzung der Fotokunst enthält der Band ein „Abécédaire“ (1943, 76) über General Pétain aus der Vichy-Zeit und ein sowjetrussisches Buch für junge Pioniere („Petiash“, Klucis/Gustav Gustavovich, 1926, 34), das sich im Übrigen künstlerischer Mittel der Avantgarde bedient. Ein Meilenstein ist sicherlich „The First Picturebook“ (Edward Steichen/Marie Steichen Calderone, 1930, 42) – mit seinen freigestellten Fotografien von Gegenständen aus dem kindlichen Alltag wird es zur Blaupause zahlloser Bilderbücher für die Kleinsten. 

Als eine weitere Konstante von den Anfängen („Kathleen in Ireland“, Etta Blaisdell McDonald/Julia Dalrymple, 1909, 22) bis in die 1970er Jahre (Serie „Enfants du monde“, ab 1953, 98) erscheinen Länderporträts, in denen den Leser*innen mittels eines kindlichen Protagonisten ein anderer Kulturkreis nahegebracht werden soll. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts bedienen sich die Fotografen und Autoren der Bilder, um mit fotografischen Mitteln wissenschaftliche oder soziale Themen herauszuarbeiten („Les bourgeons s’ouvrent“, Jean-Michel Guilcher/Robert Henri Noailles, 1960, 118-119; „It’s Wings That Make Birds Fly“, Sandra Weiner, 1968). Schließlich demonstriert die Auswahl, dass die Fotografie die Kinder- und Jugendliteratur immer wieder erweitert: das gilt für das Zusammenspiel mit dem Film (Buch zum Film „Histoire d’un poisson rouge“, Roger Mauge, 1961, 120-121) ebenso wie für die schier unbegrenzten Möglichkeiten durch digitale Bildbearbeitung („Yao le chat botté“, Véronique Aubry/Frank Horvat, 1992, 152-153). 

Bei näherer Betrachtung scheinen französische und US-amerikanische Titel überrepräsentiert. Auch wenn diese Länder zweifelsohne zahlreiche wegweisende Publikationen aufweisen, hätte dem Buch beispielsweise eine deutsche Beteiligung etwa mit „Mein Esel Benjamin“ (Hans Limmer/Lennart Osbeck, 1968) oder „Manuel“ (Stefan Moses, 1967) mehr Ausgewogenheit verliehen. Die Texte sind gut lesbar: Oftmals enthalten sie ausführliche Zitate der Künstler und interessante Informationen über Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, es fehlt indes ein systematischer Ansatz. Bei manchen Artikeln besteht kaum Bezug zu den gezeigten Büchern („Marius le forestier“, Robert Doisneau, 1964, 124-127), andere geraten recht anekdotenhaft („War in Dollyland“). Eine Auseinandersetzung mit Rollen- oder Rassenstereotypen etwa in den Länderporträts findet nur in Ansätzen statt. Erfüllt Cent cinquante ans de photolittérature pour les enfants den von Autorin und Verlag erhobenen Anspruch, hier das erste Standardwerk zum Thema vorzulegen? Wer sich ein Minimum für Kinder- und Jugendliteratur und/oder Fotografie interessiert, wird mit Freuden in dieses Werk eintauchen. Auch Forscher werden die umfassende und exzellent reproduzierte Sammlung an Fotodokumenten schätzen und weiterführendes Wissen in der Fachliteratur recherchieren. Mit Sicherheit wird dieses schöne Buch dazu beitragen, Interesse und Anerkennung am Genre photolittérature auf ein neues Niveau zu heben. 

Laurence Le Guen: “Cent cinquante ans de photolittérature pour les enfants” (Éditions MeMo, 2022, 224 Seiten)

Eine englische Version dieses Texts in der Übersetzung von Nikola von Merveldt wurde in der Zeitschrift Bookbird (Volume 62, 1, 2024, S. 74-75) veröffentlicht.