„Ich mache Müll zu Musik”
Zuerst wussten wir nur vom Hören-Sagen von Matthew Herberts letztem Streich. Die CD „The Mechanics of Destruction” kritisiert die Missstände der Globalisierung in musikalischer Form – als Profit freies Produkt ist sie nicht im Plattenladen erhältlich. Matthew Herbert überreicht sie nach seinen Konzerten oder gegen Zusendung eines frankierten Rückumschlags. „Wir verlangen einen gewissen Input vom Publikum. Ich denke, Konsum sollte keine leichte Sache sein”, kommentiert Matthew Herbert die eigenwillige Vertriebsstrategie.
Wer „The Mechanics of Destruction” schließlich bekommt, könnte beim Hören an eine Bande nervöser Zwerge denken, die auf einem Schrottplatz Trommelübungen vollzieht. Doch Matthew Herbert dirigiert mit sicherer Hand. Er versieht den lautmalerischen Reigen mit seinem bewährten Swingen und ausgetüftelten Klangspielereien. Obskures Schaben, abrupte Harmoniewechsel und alarmierende Melodien liefern aber genug Hinweise auf den ernsten Hintergrund des Werks. Wie bei allen Produktionen unter seinem Pseudonym Radio Boy verwendet Matthew Herbert ausschließlich selbst gemachte Geräuschaufnahmen als Ausgangsmaterial. Bei „The Mechanics of Destruction” wird die Auswahl zum politischen Statement. „Wenn man wie ich früher nur seine Küchengeräte aufnimmt, hat man wohl keine anderen Sorgen. Wenn Du aber das Geräusch von Splitterbomben aufnimmst, die jemand auf Dich wirft, dann ist die Auswahl Teil der Botschaft”, erklärt Matthew Herbert. Die Klangquellen sind zumeist Produkte multinationaler Unternehmen, deren Geschäftsgebaren Matthew Herbert auf der ergänzenden „Mechanics …”-Webseite anprangert. Die Politisierung integriert er beeindruckend in die „Radio Boy”-Live-Performances. Während er mit einer McDonalds-Verpackung auf das Mikrophon eindrischt und diesen Sound sofort zu einer frenetischen Rhythmik formt, reckt er mit der freien Hand anklagend den Big Mäc in die Höhe. „Es hat mir auch viel Spaß gemacht, diese allmächtigen Produkte auf eine Weise zu konsumieren, für die sie nicht gedacht waren”, erläutert Matthew Herbert. „Ich habe den Big Mäc nicht gegessen. Es ist eine Reise ins Abfallland. Ich mache Müll zu Musik, das zeitlich Begrenzte zum Dauerhaften und das ewig Gleiche zum Einmaligen.”
Ein unabhängiger Kopf war Matthew Herbert schon immer. Er kontrolliert die Rechte seiner Produktionen. In einem persönlichen Kontrakt verbietet er sich die Verwendung anderer Leute Musik für eigene Kompositionen. Matthew Herberts freiwilliger Verzicht auf fremde Samples nährt die Debatte über geistiges Eigentum und Kopierrechte in der Elektroszene. Das explizite politische Engagement entwickelte er erst in den letzten Jahren. Anerkennung und Einfluss gründen jedoch auf seinen schöpferischen Leistungen. Der Theaterstudent Matthew Herbert ist dann wohl auch der erste, der sich 1995 nur mit einer raschelnden Chipstüte und einem Sampler ausgestattet vor eine Menschenmenge stellt, um sie zu unterhalten. Schon als Vierjähriger lernt der Londoner Violine und Klavier. Als Jugendlicher spielt er in Bands und Orchestern. Sein Vater ist Toningenieur bei der BBC und fördert Matthews Begeisterung für Musiktechnologie. Mit zunehmenden Erfolg produziert er seit 1996 unter verschiedenen Pseudonymen elektronische Musik. Wishmountain und später Radio Boy stehen für experimentellen Techno. Als Doctor Rockit manövriert Matthew Herbert zwischen Kaffeehausmusik und elektronisch inspiriertem Wahnsinn. Am Bekanntesten ist das House-Projekt Herbert. Hier beteiligt sich Matthew Herberts Lebensgefährtin Dani Siciliano als Vokalistin. Die jüngste Herbert-Veröffentlichung „Bodily Functions” prägen Jazz-Einflüsse und ein traditionelles Instrumentarium. Zusätzlich komponiert Matthew Herbert für Film und Tanz, wie jetzt für die Blanca Li-Inszenierung „Borderline” an der Komischen Oper in Berlin. Der Name Herbert auf Remixen oder als DJ bei Clubabenden garantiert rege Nachfrage. Denn Matthew Herbert erreicht die Fachleute ebenso wie ein größeres Publikum. Die Kollegen und Spezialisten respektieren seine Eigenständigkeit und die hohe Qualität seiner Arbeit. Viele andere Menschen haben dank der warmen Note in Matthew Herberts Produktionen die elektronische Musik überhaupt erst schätzen gelernt.
Das Künstlerische und das Private, das Private und das Öffentliche sind bei Matthew Herbert eng verwoben. Das verleiht Matthew Herberts Musik ihre besondere Anziehungskraft. Für die Außenwelt führt das dazu, dass sie einen Menschen zu kennen meint, obwohl dieser sein Privatleben hermetisch abschottet. In seinen Arbeiten setzt er die verschiedenen Sphären ständig in Beziehung. Er reflektiert sie und versucht sie gegeneinander abzugleichen. Er will sich selbst und seinen Prinzipien treu bleiben. Ein hoher Anspruch, bei dessen Erfüllung sich Matthew Herbert bisweilen in Widersprüche verwickelt. Ein Beispiel ist sein Verhältnis zu den Medien. Ist es nicht seltsam, mit Hilfe der letztlich mit dem System gewonnen Popularität nun gegen dieses zu kämpfen? „Zu was für einem System gehöre ich denn?”, fragt Matthew Herbert empört zurück. „Ich bin Teil einer tief gespaltenen Konsumgesellschaft und einer schlecht funktionierenden Demokratie. Sie gibt meine Steuern für Morden und Business aus anstatt für Bildung und Gesundheit. Ich bin nicht bekannt. Ich komponiere Musik. Wenn Leute über mich schreiben wollen und nicht über wichtigere Dinge, ist das ihre Entscheidung.” Dennoch bieten gerade die Medien eine notwendige Tribüne für sein Engagement. Matthew Herbert kennt ihre Mechanismen und versteht sie zu nutzen, auch wenn er die eigene Bedeutung herunterspielt. Dabei wirkt er in der Öffentlichkeit oftmals mürrisch und unnahbar. Dann entsteht der Eindruck, Matthew Herbert braucht die Musik als Ventil. Bei einem Konzert sammelt er die leeren Flaschen auf der Bühne nicht aus Sorge um die barfüssig auftretende Dani Siciliano. Er zerschlägt sie in einer Kiste, konzentriert und vielleicht besessen, weil er das Bersten für ein Stück braucht. The Mechanics of Destruction? Nein, Matthew Herberts Schaffensdrang erscheint wie ein Transformator, der ein beständiges unterschwelliges Hadern in Musik verwandelt.
Publiziert in: Berner Zeitung, 4. Juli 2002