Smarter Typ mit wachem Geist:
Der französische Autor Jonathan Littell im Gespräch
Jonathan Littell setzt sich und zündet ein Zigarillo an. Dann muss die braune Flüssigkeit in seinem Glas wohl Whisky sein. Er trägt einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und verschränkt Arme und Beine. Auf der Bühne des Berliner Ensemble wirkt er ein klein wenig angespannt, schaut nicht ins Publikum. Er konzentriert sich auf sein Gegenüber, den Politiker und Publizisten Daniel Cohn-Bendit. Das Jugendliche der allgegenwärtigen Fotos ist da, das Schelmische fehlt – noch. Das ist also der Autor des Romans „Die Wohlgesinnten”, dieser 1400 Seiten starken fiktiven Erinnerungen des SS-Offiziers Max Aue, das in Deutschland viele für eine Monstrosität halten. In Frankreich ist das Buch ein Bestseller und hat die wichtigsten Preise gewonnen. Für den deutschsprachigen Raum beträgt die Startauflage sagenhafte 120 000 Exemplare.
Jonathan Littell redet leise, er bedient sich einer jungen Sprache, sagt „der Typ” für irgendwelche Personen oder: „Mit den Juden hatte Hitler einen spezifischen bug.” Schon nach kurzer Zeit versucht er mit Nonchalance und Humor, das Gespräch nicht übermäßig ernst werden zu lassen. „So konzeptuell arbeite ich nicht”, lacht er, wenn Daniel Cohn-Bendit verstiegene Interpretationen zu seinem Buch suggeriert. Bekanntlich redet er nicht gern in der Öffentlichkeit und gibt kaum Interviews. Offenbar würde er gern den Gestus des Intellektuellen meiden, der sich selbst zu wichtig nimmt. Doch ganz so zahm ist er glücklicherweise nicht, manchmal geht seine Belesenheit mit ihm durch.
Werden die Figuren im verzierten Theatersaal des BE zu den „Wohlgesinnten”, Rachegöttinnen, die den Autor des deutschen Feuilletons verfolgen wie den Erzähler in seinem Roman? Schließlich haben außer der FAZ, die den Anfang des Romans vorab gedruckt hat, nur wenige Kritiker ein gutes Haar an dem Buch gelassen. Die deutsche Kritik fürchte, vermutet der Philosoph und Faschismusforscher Klaus Theweleit, sie werde „ihrer schwer erarbeiteten Deutungshoheit beraubt.” (In der Schweiz reagierte die Presse deutlich gelassener.)
In Berlin bewertet Jonathan Littell die Reaktionen gleich zu Anfang als einen Teil der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Schließlich habe nicht die Generation der Täter, sondern vor allem deren Kinder Probleme mit der NS-Vergangenheit, fügt er später hinzu. Ein versöhnliches Signal an die Rezensenten, oder schwingt da auch ein wenig Spott mit? Die Verwendung des Orestes-Mythos rechtfertige keineswegs die Hörigkeit der NS-Henker, so Littell. In der griechischen Tragödie spiegele sich eine Zeit des Übergangs, in der sich die Menschen allmählich vom Einfluss der Götter emanzipierten. In den „Wohlgesinnten” gehe es nicht darum, die Schuld der Deutschen klein zu reden, sondern zu zeigen, dass „der Nazismus jeden betrifft” und jeder ein potentieller Täter ist. Zügellose Gewalt kennt Jonathan Littell aus seiner humanitären Arbeit, und er nennt drastische Beispiele, wie in der „anderen Zeitrechnung des Krieges” gerade auch die Helfer aus der Rolle fallen. Historiker, meint der Autor mit Blick auf die Pornographiekritik an seinem Buch, ignorierten häufig den Einfluss der Triebe, weil sie sich nicht immer so eindeutig nachweisen ließen wie in Abu Ghuraib. „Ich sage nicht, dass alle einen Ständer haben, wenn sie töten, aber so was existiert”, unterstreicht Littell.
Doch solche blumigen oder provokanten Äußerungen sind an diesem Leseabend eher selten. Littell scheint nicht daran gelegen (und hat es auch nicht nötig), die ohnehin hitzige Debatte zusätzlich anzufachen. Vielleicht will er die Deutschen nicht überfordern. Die große Konfrontation fällt aus: Daniel Cohn-Bendit gibt sich milde und Fragen aus dem Publikum sind wohlweislich gar nicht erst vorgesehen. Als sich Littell am Schluss flüchtig verbeugt und dem applaudierenden Publikum – endlich! – einen scheuen Blick zuwirft, ist das Rätsel Littell unangetastet.
Publiziert in: Berner Zeitung, 1. März 2008