Druffis? Nein danke!
Das Fach Ethnologie lässt an weit entfernte Zivilisationen und fremde Völker denken. Die Autorin Anja Schwanhäußer hat ihr Studienobjekt dagegen in der deutschen Hauptstadt gefunden. Es geht um eine Personengruppe, die in und um Berlin Tanzveranstaltungen mit überwiegend elektronischer Musik organisiert und sich dafür temporäre locations zu Eigen macht – diese Menschen erproben ein neues Lebensgefühl. In der auf etwa 300 bis 3000 Leuten geschätzten Gemeinschaft hat die Autorin eine zwölfmonatige Feldforschung durchgeführt und diese zu ihrer „Ethnografie einer Berliner Szene” verarbeitet.
Was darf der Leser von einer solchen Bestandsaufnahme erwarten? Zunächst eine wahrheitsgemäße Beschreibung dieser Szene, die sich möglichst nicht nur auf Fakten und Verhaltensweisen beschränkt, sondern darüber hinaus über die Mentalitäten der Akteure aufklärt. Die Stadtethnologin Schwanhäußer schafft für ihre Untersuchung einen theoretischen Rahmen, der hier nur kurz angedeutet werden soll. Für die Akteure der „Szene” (ein offenerer Begriff als Subkultur) operiert sie mit dem Konzept des neuen Kleinbürgertums nach Pierre Bourdieu. Ihre zentrale Analysekategorie ist der Raum: Er verliert seine früheren Funktionalitäten, wird zur location verwandelt und auf atmosphärische Qualitäten (Gernot Böhme) hin für events inszeniert – diese Tendenz beginnt bei einer gemütlichen illegalen Lounge in einem leerstehenden Ladenlokal und endet bei knallhartem Stadtmarketing, siehe Love Parade Duisburg. Um die Bedeutung der Partys zu erfassen, verwendet die Autorin die von den Situationisten und Henri Lefèbvre skizzierte Theorie der Momente.
Schon die Benennung der untersuchten Gruppe ist aufschlussreich. Die Akteure selbst fühlen sich kurz und knapp „der Szene” zugehörig. Sie bleiben dabei gerne unspezifisch, weil es zu ihren Idealen gehört, möglichst offen zu sein und Leute zusammenzubringen. Nur wenn man sich explizit abgrenzen will, wird der anderen Szene ein Präfix verpasst, z. B. Rockszene. Die Autorin hat sich daher für ihre Gruppe zu dem Behelf „Techno-Underground” durchgerungen – ein Begriff, der den subkulturellen Hintergrund berücksichtigen soll. Dessen Wurzeln sieht sie in der Hausbesetzer- bzw. Wagenburgszene, der Hippiekultur sowie in der Prenzlauer-Berg-Bohème der 80er Jahre. Allerdings sei diese Szene weitgehend undogmatisch und schon jeder Ansatz von Ideologie „postmodern gebrochen”. Eine Reihe lebendiger Kurzporträts hilft, die Akteure und ihre Hintergründe greifbar zu machen.
Die intensive Beschäftigung mit dieser Gemeinschaft relativiert einige der gängigen Klischees über die Partyszene, so zum Beispiel die Vorstellung von hemmungslosem Drogenkonsum. Sicherlich werde auf den Veranstaltungen fleißig gekifft. Exzessiven und härteren Drogenkonsum lehnen die Beteiligten aber zumeist ab, „weil die Sensibilität für das gesellige Miteinander verloren geht, das ja den Kern der Szeneexistenz ausmacht”. Kurz gesagt: „Druffis”, nein danke. Auch eventuelle Sex-Phantasien werden ins Reich der Mythen verwiesen. „Das unverbindliche ‚Kuscheln’ (…) ist eine Form der Zuneigungsbekundung, die im Gegensatz zur Sexualität öffentlich praktiziert wird, (…) typischerweise in den Morgenstunden, wenn die Festgesellschaft sich müde in die Sofas sinken lässt.” Vom Sodom und Gomorrha, das mancher Boulevard-Journalist oder Moralapostel auf ausnahmslos jeder Technoparty vermutet, sind wir hier weit entfernt. Einen weiteren Trend hat Anja Schwanhäußer erkannt und setzt sich ausführlich damit auseinander: Der Techno-Underground erobert auch das Berliner Umland für sich. Die Natur wird aber nicht wie zu Hippie-Zeiten idealisiert, sondern mit Möbeln, Dekoration und Technik in Szene gesetzt.
Der Autorin gelingt es sehr gut, eine Vielzahl von Phänomenen treffend zu beschreiben, zum Beispiel das Verhältnis der Akteure zum Raum und die daraus resultierende „Kultur der Verflüssigung”. Auch ökonomische Aspekte werden berücksichtigt: Der Techno-Underground trägt mit seinem kreativen Potential entscheidend zum „neuen Berlin” bei, liefert damit aber zugleich den Rohstoff für die Festivalisierung der Stadt. Nur wenige Akteure profitieren davon – wie zum Beispiel der ausführlich porträtierte Veranstalter des Fusion-Festivals -, viele leben in sehr unsicheren Verhältnissen und leiden langfristig darunter.
Geld ist folglich nicht die Triebfeder der Szene – was ist es dann? Darauf hätte man sich eine etwas deutlichere Antwort gewünscht. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass ein möglicher Lösungsansatz stiefmütterlich behandelt wird: die kulturellen Inhalte der Veranstaltungen, insbesondere die Musik. Sie wird überwiegend als rein funktionales Phänomen dargestellt, das „dem Augenblick eine klangliche Tönung” gebe, ihn „lediglich ästhetisch untermalt”. Der Techno-Underground besteht aber zu einem gewichtigen Teil aus Musikern, DJs, Veranstaltern – daher rührt das attestierte kreative Potenzial – sowie einem erhöhten Anteil kritischer Hörer. Für sie hat Entdeckungslust, Weiterentwicklung und Förderung von Musik nicht nur eine „zentrale Bedeutungsdimension” (Schwanhäußer), sondern ist Impuls und Motivation für die Aneignung von locations. Warum sollte man einen Raum besetzen, wenn man kein Programm zu bieten hat? Diese unglückliche Gewichtung von Raum und Inhalt führt zu einer Reihe von Fehleinschätzungen. So sind auch Künstler und Musiker vielfach Respektspersonen in der Szene, und nicht nur Leute aus dem Besetzer- oder Hippieumfeld, wie die Autorin angibt. Verwunderlich ist außerdem, dass die Autorin als Territorium der Berliner Szene Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg nennt, aber den Bezirk Mitte nicht erwähnt, obwohl dieser in Vergangenheit und Gegenwart auf eine Vielzahl temporärer Orte verweisen kann.
Diese Anmerkungen sollen den grundsätzlichen Verdienst von Anja Schwanhäußer nicht schmälern. Umfassend und präzise berichtet sie über die Tatsachen sowie Mentalitäten und Lebensbedingungen der Szeneakteure und schildert sie differenziert. Sie klärt auf, stellt neue Bezüge her. Und auch die größte Herausforderung bewältigt sie: über eine im weitesten Sinne subkulturelle Szene objektiv und nicht peinlich zu schreiben.
Info: Anja Schwanhäußer: „Kosmonauten des Underground” (Campus Verlag, 2010)
Leicht gekürzt publiziert in: FAZ, 11. November 2010