Ab nach Lampedusa!
Paul Kalkbrenner bedient die visuelle Seite des Techno – und es ist nicht zu seinem Schaden. Mit der Fiktion „Berlin Calling“ hat Techno 2008 die große Leinwand erreicht. Paul Kalkbrenner spielt den drogengeschüttelten Produzenten „Ickarus“ und liefert den Soundtrack. Die 2010 nachgeschobene „Live Documentary“ ist wohl eher ein recht gnädiges Künstlerporträt und zeigt, wie sehr der Kinofilm seine Karriere nochmals angeschoben hat. Gigantische Festivals, Megaclubs, Arenen feiern seine emotionalen Hymnen und „Paule“ ist eine Techno-Celebrity. In der Ethnologie heißt es, wenn eine Tradition auszusterben drohe, werde sie folklorisiert. Vielleicht gilt das auch, wenn sich eine ehemals avantgardistische Musik im Massengeschmack auflöst. Die Filme haben dazu ihren Beitrag geleistet.
Interessant nun sich zu erinnern, dass Paul Kalkbrenners Produktionen schon immer wie Film-Scores klangen. Auf seinem Debüt „Superimpose“ (2000) arbeitet noch dumpfes, bedrohliches Geröll gegen die versöhnlichen Harmonien. Das hörenswerte Album „Self“ (2004) gibt sich bereits wie der Soundtrack zu einem noch nicht gedrehten Streifen. Weiche, weite und oftmals dramatische Flächen öffnen viel Raum für ergänzende Fantasien, sogar ein Akkordeon wird bemüht. Manche Tracks sind aufreizend langsam, andere treiben Beats durch die wattierten Atmosphären, hie und da noch Momente der Spannung, aber alles ist gekonnt und gefällig arrangiert. Der Künstler hat seinen Stil gefunden und den Prototyp des Kalkbrennerschen Sehnsuchts-Techno geschaffen.
Mit dem „Berlin Calling“-Soundtrack folgt dann endlich die Musik zu einem Film und das passt wie zu erwarten hervorragend. „Sky and Sand“ mit dem Gesang von Kalkbrenners Bruder Fritz avancierte zum Hit. Der Text appelliert an die essentiellen, einfachen Dinge des Lebens – Liebe, Treue, Träume, Scheitern –, nicht weit entfernt von traditionellen Country-Lyrics (eine andere moderne Folklore). Damit kommt er auch bei der deutschen Truppe in Kunduz an, die Paul Kalkbrenner Anfang des Jahres for free bespielte: Tja. Kurze Haare trug er schon immer. Anderweitig wirbt das Goethe-Institut (Happy Birthday!) im Ausland mit Techno from Germany, aber was wohl passiert wäre, wenn ein Afghane dem Konzert „eines der angesagtesten deutschen Künstler für deutsche Soldaten“ (Zitat aus dem Bundeswehr-Video vom „Einsatz Kamera Trupp“) hätte beiwohnen wollen?
Sein jetzt erschienenes Album „Icke wieder“ hat Paul Kalkbrenner bereits vorab ohne Gesang angekündigt. Schade eigentlich, denn eigentlich sind viele Stücke mit drei oder vier Akkorden konstruierte Techno-Pop-Songs. Die ersten („Böxig Leise“, „Gutes Nitzwerk“) funktionieren nach dem Prinzip von Kalkbrenners melancholischer Euphorie: Feuerzeugschwenker-Harmonien und ein klagendes Motiv versus gemäßigten, geraden Beat plus ein funkiges und einprägsames Gitarrenlick. Bis auf einen schrägen Griff in die Saiten bei „Jestrüpp“ ist das schön glatt, es zielt direkt aufs Herz und wird treffen. Danach scheint ein wenig die Luft draußen. „Schnakeln“ und „Sagte Der Bär“ sind zwei solide, aber recht gewöhnlich gestrickte Techno-Tracks. Andere Stücke fallen noch weiter ab, wie etwa „Des Stabes Reuse“ mit seinem verdrucksten Keyboard über den We-Will-Rock-You-Drums.
Nun gut, dass „die Musik von übermorgen“ nicht auf dem Album zu finden sei, hatte Paul Kalkbrenner ebenfalls schon vorausgeschickt. Tatsächlich setzt er auf bewährt Anheimelndes, worauf viele sich einlassen können und wollen. „Alles wie immer“, meint der Künstler: Abgesehen vom Wiedererkennungswert erweist sich dieser Wohlfühl-Techno leider als wenig nachhaltig. Warum nicht öfter mal was Neues? Wie wär’s mit: Paul Kalkbrenner lässt sich die Haare wachsen und gibt ein Freikonzert in einem Flüchtlingslager auf Lampedusa, und das völlig straight edge. Da lässt sich auch ein Film draus machen.
>>> olian
Paul Kalkbrenner: „Icke Wieder“ (Paul Kalkbrenner Musik / Rough Trade)
Publiziert in: FAZ, 17. September 2011